Heinrich August Noë

Geschichten

Aus dem "Brennerbuch" (1869)

 


Auf der anderen Seite des Eisack gibt es einen Ausflug, welcher zur selben Höhe führt, in der Oberbozen liegt. Ich meine Kollern auf seinem waldigen Berge. Dort hinauf ist schon der Gang weit anmutiger, weil man sich fast vom Eisack an immerwährend im Wald oder am Waldrand hin bewegt, während drüben Stunden vergehen, bis man den Bauern der Pflanzungen entrinnt. Der Kollerner Berg ist eben "schattseitig", das heißt gegen Norden gerichtet und der Anbau des Weines würde sich auf seinem Boden nicht lohnen, welcher gar wenig von der Sonne beschienen wird. Der Berg über Kuepach, an der kleinen Kapelle hinauf nach Seit, dem Bergdorfe, kennen wir schon. Dieses ist der weitere, aber schönere Anstieg nach Kollern für denjenigen, der sich an großen Gesichtskreisen erfreuen will.

Von Seit nach Kollern wird ein junger Wald auf schönem dichtem Moos durchschritten. Durch seine Baumreihen glänzen bei Nacht aus der großen Tiefe die Lichter von Bozen herauf. Aus der Wildnis heraustretend erblicken wir Kollern und zwar Herrenkollern zum Unterschied von der Häusergruppe auf dem andern Hügel, welche von Bauern besucht wird, so genannt.

Während des Sommers sind die meisten "Frischler" in einem großen Wirtshause untergebracht, welches mit Rücksicht auf diese Gäste erbaut wurde. Wir aber ziehen die kleinere Herberge vor, welche zu allen Jahreszeiten die Durstigen tränkt. Weniger gut ist es freilich mit dem Speisen der Hungrigen bestellt.

Indessen wird das durch die Eigenart der guten Leute ausgeglichen. Jetzt im Herbste lässt sich auch mit diesen leichter verkehren, als während der Sommerfrischzeit. Von der Geschäftigkeit, zu welcher sie in jenen Tagen verdammt sind, machen wir uns eine Vorstellung, wenn wir hören, dass nebst so und so vielen erwachsenen Gästen die gleichzeitige Anwesenheit von 40 Kindern in der Sommerfrische für nichts Ungewöhnliches gehalten wird. Und in der Tat empfiehlt sich der Aufenthalt hier vor dem in Oberbozen durch Mancherlei:

Von der frischen Luft am Kollern:

Kollern ist, obgleich eben so hoch gelegen, doch nicht so weit von der Stadt, als sein bevorzugter Nebenbuhler auf der jenseitigen Hochfläche. Über beide weht der nämliche kühle Luftstrom hin, aber die Leute in Kollern erquickt er mit den Harzdüften der Wälder, welche sich von allen Seiten her um die weniger Häuser ziehen. Dieselben Wälder geben dem Pilger auf diesem Berg an gar vielen Stellen ihren Schatten, während der Weg nach dem Ritten zu allen Tagesstunden von den gerade auffallenden und von den zurückgeworfenen Wärmestrahlen zu einer Straße der Verwünschung wird.

Dasjenige aber was in Kollern am höchsten zu preisen ist, bleibt das Wasser.

Ihm zu Liebe allein und um sich einmal durch einen frischen Trunk von dem Spülicht zu erholen, den man während des Sommers in der Stadt trinkt, steigen gar manche Bozener hinauf. Es perlt von den Blasen der Kohlensäure, welche entweichen will und auch von den anderen heilsamen Beimischungen soll es eine Menge enthalten, wegen deren in einer betriebsameren Gegend vielleicht zum Rang eines so genannten Mineralwassers erhoben würde. Ein Gesundbrunnen in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ist sie sicherlich, die Quelle der Kollerner Wälder. Ich zweifle nicht, dass vor Jahren, als der Ritten noch so bewaldet war, wie dieser Berg, unter dem Schutze der Forste sich ebenso kühle Wasser ansammelten. Seid dem er aber bewohnt oder durch "wälsche" Praktiken seiner Bäume beraubt worden ist, sind die Adern in der spärlichen Humusschicht vertrocknet oder übermäßig durchwärmt.

Etwas anderes, was an ein Heilbad erinnert, besitzt der Wirt in seinem Hause. Es ist dies ein dickes Buch, dem Ansehen nach um die Mitte des 16. Jahrhunderts gedruckt, worin von der "Kraft" vieler Pflanzen ausführlich Kunde gegeben wird. Der 1. Teil dieses Werkes und das Titelblatt fehlen. Die guten Holzschnitte, durch welche die Pflanzen dargestellt werden, sind von einem gleichzeitigen Künstler mit Wasserfarben bemalt. Dieses "Kräuterbuch", welches für alle möglichen Übel wirksame Arzneien verheißt, steht bei den Bauern der Umgebung in großem Ansehen und wird von ihnen mit Erlaubnis des Besitzers häufig zu Rat gezogen.

Wenn nun offenbar der Aufenthalt auf diesem hohen Bergrücken für die Gesundheit ein förderlicher ist, so muss man dagegen auch zugeben, dass es eines erfreulichen Schatzes von Gesundheit bedarf, um hier wohnen zu können. Das Auf- und Absteigen vom Berge zur Stadt, aus der Stadt auf die steile Höhe setzt Lungen und Muskeln tüchtigen Prüfungen aus. Zwar nicht Kollern selbst, doch ist Kollerner Berg schattseitig, der Schnee verschwindet also auf ihm nicht, kaum nachdem er die Erde berührt hat, wie auf den Abhängen des Ritten. Ich habe hier manchmal tiefen Schnee durchwatet, während in Bozen alle Obstbäume in Blüte standen und zu diesem Krebsgang vom Frühling in den Winter nicht mehr als 2 Stunden verwendet. Dennoch aber reicht die Milde dieses Himmelsstriches hin, um den Schnee da, wo er festgetreten ist, etwas tauen zu machen, worauf die nasse dünne Schicht von der Kühle der Nacht und durch die Ausstrahlung in die dünnere Luft oft in Glatteis verwandelt wird. Dann beginnen die Beschwerden der Höhenbewohner. Es ist kein geringer Stück Arbeit über die jähen Pfade, die manchmal hart an steilen Hängen vorüber führen, hinab zu kommen, wenn sie von solchem Glatteis bedeckt sind. Darum hat aber auch jede Person in den Häusern oben, sei es Mann, Weib oder Kind seine Steigeisen. Ohne diese würde ihnen das Herabkommen zum Gottesdienst nicht selten unmöglich.

Wenn man zuviel mit dem Wirt plaudert...

Was es mit diesen Steigeisen für eine Bewandtnis hat oder vielmehr wie es Einem ergehen kann, wenn man sie nicht anwendet, davon habe ich selbst eine Erinnerung.

Ich benützte einmal einen kalten Januar-Nachmittag um nachzusehen, was die Leute dort oben im Schnee trieben und auch um für einige Stunden der Plage des Staubes zu entrinnen, der unablässig durch die Wege von Gries hin und her gejagt wurde. Der übereiste Boden hinderte mich wenig am Hinaufsteigen, denn ich legte dem Weg ebenso rasch wie in der schneefreien Zeit zurück und genoss dabei der Vergünstigung, in der kalten Luft weniger vom Schweiß geplagt zu werden, als in den Tagen des langen Sommers. Über dem Geplauder mit den Wirtsleuten brach unversehens die Nacht herein. Ich tröstete mich, weil zur gleichen Zeit die volle Scheibe des Mondes über dem Ritten sichtbar wurde und die Bäume in seinem Licht schon Schatten warfen und die Schneehänge von der goldenen Flut überrieselt waren, noch ehe das Abendrot über der Mendel beblasste. Die Leute warnten mich und wollten mir die Steigeisen aufdrängen, in dem sie behaupteten, ich würde ohne diese nicht zu Tal kommen.

Hinab gelangte ich nun allerdings, aber erst nach 5 Stunden, die ich tastend, rutschend und mit Verwünschungen gegen meine eigene Torheit zugebracht hatte und wobei mir der Glanz des Mondes durchaus nicht behilflich war, geraden Fußes über die schiefen Eisflächen hinweg zu kommen.

Der Vergleich mit dem Ochsen!

Auch die Hufe sämtlicher Tiere werden hier mit Steigeisen versehen. Einige wollen dieselben freilich nicht dulden und ehe der Kollerner Bauer daran denken kann, ein Tier zu behalten, muss er vorher wissen, ob es auch geneigt ist, sich mit dieser Stütze seines Wandelns versehen zu lassen. Das Einzige, was mich beim Herabrutschen in jener Nacht ergötzte, war die vergleichende Zusammenstellung meines Eigensinnes mit dem eines mächtigen Zugochsen, welcher, wie mir vorhin der Wirt erzählt hatte, ebenso wenig Lust zum Anlegen von Steigeisen zeigte als ich.

Die Materialseilbahn, Vorgänger der 1. Schwebeseilbahn der Welt

Die Steilheit der Abhänge ist noch an einem anderen Brauche ersichtlich, welcher allerdings aus Welschland her eingeschleppt wurde. Diejenigen, welche oben kleines Holzwerk, Prügel, Wellen, Astbündel zu Tal befördern wollen, bedienen sich einer Vorrichtung, durch welche ihnen die Mühe erspart wird, diese Lasten über die Hänge hinab, welche dicht mit Bäumen bepflanzt sind, auf dem Rücken oder auf irgend eine andere Weise zu schleppen. Diese Vorrichtung besteht im Folgendem.

Oben, wo die Holzbündel aufgeschichtet liegen, um nach der Tiefe befördert zu werden, wird um den nächsten besten Stamm ein Drahtseil geschlungen, dessen anderes Ende die Holzarbeiter ebenso in der Tiefe befestigten. Man nimmt einen Stab, bindet an seine beiden Enden wohl bewahrt je ein Holzbündel und legt diesen Stab auf den Steil geneigten Draht, worauf er mit seiner Last schwirrend hinab gleitet. Wer im Bergwald geht, erblickt hoch über sich und den Wipfeln den schwarzen Streifen.

Von den fliegenden Knödeln...

Solche, die von dem Brauche nichts wissen, erstaunen, dann mitten im Walde manchmal ein sonderbares Klagen und Ächzen in den Lüften zu vernehmen, dem Gesange einer Telegrafenleitung im Wind ähnlich. Selbst Speisen für die Arbeiter werden manchmal auf solche Weise hinab befördert. Dass es biebei nicht ohne Unglücksfälle abgeht, lehrte mich eines Tages ein Kreis murrender Knechte, welche, als sie den Korb öffneten, nur mehr einen einzigen Knödel vorfanden. Die anderen waren durch die Raschheit der Bewegungen aus dem schlecht verwahrten Korbe herausgefallen. Derjenige, welcher sich im entsprechenden Augenblick an der fraglichen Stelle befunden hätte, würde ohne Zweifel Wunder geschrien haben über die schönen Knödel, welche zwischen den hohen Fichten aus dem blauen Himmel herab ihm vor die Füße fielen, und die Chronik der Naturwunder in den Zeitungen hätte nebst einem Frosch-, Blut- und Schwefel- auch einen Knödelregen zu verzeichnen.-Die Kosten eines solches Drahtes, welche sich unter Umständen auf mehrere hundert Gulden belaufen, werden durch die Ersparung an Arbeit mehr als ausgeglichen.

Fernsicht von wunderbarer Herrlichkeit!

Wie es auf solcher Höhe und in der Bozener Umgebung mit der Fernsicht bestellt sein mag, das lässt sich ohne besonderer Erwähnung denken. Man lagere sich an einem schönen Herbstmorgen auf den Hügel auf dem Wirtshause, den ein Landesvermessungs-Signal bezeichnet, in die dichten Rodenderen und schaue über die Baumwipfel, die namenlos ruhig in der blauen Luft dastehen, hinaus in die entlegene Welt. Wie ein dreieckig zugeschliffener Diamant liegt die Spitze des Ortler auf dem Rand der Mendel. So oft ich mir das Fernrohr des Wirtes entlehnte, um diesen näher zu betrachten, lachte er mich aus. Man weiß wohl, dass manchem armen Bauer die Freude der Herrischen an solchen nackten, verschneiten Kofeln närrisch vorkommt. Gerade vor uns erhebt sich die Sarner Scharte, mit Schnee bestreut, aus dem Hintergrund des gleichnamigen langen Thales, welches ein unbedeutender Graben zu sein scheint, der von ihr sich in das Eisacktal hinabzieht. Von anderen Gebirgen ist es vorzüglich die Geisterspitze, welche hier eben so schön gesehen wird, als von Ritten aus.

Die Fernrohr Zeichensprache...

Die Häuser auf diesem selbst, Klobenstein und andere nördliche Dörfer ausgenommen, stehen alle deutlich und greifbar vor uns auf dem grünen Plan; die Entfernung in der Luftlinie über das schmale Thal hinüber ist ja eine so geringe. Auch pflegen die Sommerfrischgäste in Kollern und auf dem Ritten sich durch Signale zu verständigen und mittels Zeichen sinnreiche Unterhaltungen zu führen. Etwas ähnliches tun manchmal die Eltern solcher Kinder, welche zur Beförderung von Wachstum und Gesundheit die qualvollen Monate des Sommers in der Bergkühle von Kollern zubringen und die sich alle Tage vom Wohlbefinden der Kleinen überzeugen wollen, ohne dass Briefe geschrieben oder Botengänge gemacht werden müssen. Von der Stadt aus sieht man nicht überall auf die nächsten Umgebungen des Sommerfrischhauses selbst hin; dagegen brauchen die in Kollern nirgends weit zu gehen, um eine Stelle auf den Wiesen oder eine Rodung im Walde zu erreichen, an welcher man sich wechselseitig sehen kann. Es wird eine stunde festgesetzt, zu welcher die Magd an einem bestimmten Ort mit dem Kinde erscheint. Von unten aus sehen die Angehörigen mit dem Fernrohr hinauf und nehmen vielleicht auch zugleich von allerlei verabredeten Zeichen Kenntnis, durch welche Ihnen die Magd Mitteilungen über wenige wichtige Angelegenheit zuschickt.

Von Rubinen und glühenden Kohlen:

Nicht minder prachtvoll sind die Abende, in deren Glanz sich vor allem die Geisterspitze hervortut, mit deren Röte in Wirklichkeit Rubine, glühende Kohlen und andere bei Dichtern zu solchen Vergleichungen beliebte Körper nicht zusammengestellt werden können. In dieser Beziehung ist der Beschreiber der Erscheinungen dieses Landes auf die einfache Erwähnung beschränkt.

"Wie Stereotypen zu einfachen Bildern"

Auch müssen die sonderbaren Wolken angemerkt werden, welche man auf solcher Höhe durch die südlich klare Luft am Abendhimmel bemerkt. Diese Wolken trieben oft ballender walzenförmig, körperlich gerundet daher und verhalten sich zu den Dunstzügen, welche man draußen im Norden sieht, wie Stereotypen zu einfachen Bildern. Auch konnte ihr Aussehen durch den Unterschied gekennzeichnet werden, in welchem der Vollmond einem starken und einem schwachen Auge sich zeigt. Dieses sieht ihn als Scheibe, jenes als Kugel. Ebenso schwimmen rundliche Wolken an den Abenden hier durch die Luft, welche so aussehen, dass man sie mit ungeheuerlichen Baumstämmen vergleichen möchte, welche auf einmal durch irgendeinen Vorgang in den Zustand des Glühens geraten sind.

Der Weg zurück

Vom Kollerner Berge führen viele Wege in die Stadt zurück. Man kann über Bad St. Isidor und Kampenn, über Virgl, man kann aufs Geradewohl ohne bestimmten Steig hinab kommen. In 2 Stunden gelangt jeder von den Waldgründen weg, auf deren trockenem Moos rote Heidekräuter blühen, auf deren Rodungen junges Gestrüpp über dürre Blätterhaufen sich hinzieht, endlich hinab an den Fluss, dessen Geräusch von den untersten Wänden verstärkt wird, in die Weinberge und zwischen die Mauern.